Residenzstipendium im tschechischen Broumov

Auf Einladung des Goethe-Instituts Prag geht es in diesem Jahr für vier Wochen nach Broumov an die tschechisch-polnische Grenze. Ich werde dort an meinem neuen Romanprojekt Spukhafte Fernwirkung arbeiten.

Ganz in der Nähe der Stadt befindet sich das Babičcino údolí, das „Großmütterchen-Tal“. Der Name bezieht sich auf die Figur der Babička von Božena Němcová, eine der wichtigsten Schriftstellerinnen Tschechiens, die hier aufgewachsen ist. In Bushaltestelle habe ich sogar eine kleine Szene eingebaut, die sich auf diese Figur bezieht. Im Buch selbst ist die Passage stark gekürzt, dies ist die ursprüngliche lange Version:

Schräg gegenüber auf dem Vierertisch hat sich eine ältere Dame mit ihrer Enkeltochter hingesetzt, das Mädchen liebt die Blumen und Bäume und Pflanzen. Es zählt alle Pflanzennamen auf, die es kennt, und es kennt erstaunlich viele. Die Großmutter nickt im Takt zu den einzelnen Namen. Ano. Dobře.

Kociánek dvoudomý. Třtina nachová. O střice blešní. Pupava bezlodyžná prodloužená. Prstnatec bezový. Hvozdík lesní. Suchopýr širolistý. Hořeček nahořklý. Pravý hořeček. Německý hořeček. Zlutavý hořeček. Drsný Sturmův. Prasetník plamatý. Hladýš pruský. Stavač mužský. Pravý vstavač. 

Weil die Großmutter zuhört, hören auch die anderen Fahrgäste zu. Zuhören ist ansteckend. Motylka gibt sich ihrer Stimme hin, das Zuhören umgibt sie wie ein Kokon.

Das Katzenpfötchen. Die Großmutter nickt. Lila Schilfgras. Die Großmutter nickt. Floh-Segge. Silberdistel. Ano. Holunder-Knabenkraut. Buschnelke. Sie nickt. Breitblättriges Wollgras. Ja. Echter Alpenenzian. Gut. Bitterer Fransen-Enzian. Deutscher Fransen-Enzian. Sie nickt. Karpaten-Kranzenzian. Und nickt. Rauer Kranzenzian. Ja. Geflecktes Ferkel-Kraut. Preußisches Laserkraut. Gut. Prächtiges Knabenkraut. Die Großmutter nickt. Knabenkraut.

Wie ein Lied hört es sich an, was Babička und Vnučka singen, Babicka krächzt, Vnucka in Trance, mehrstimmig und im Kanon, jede singt ihr eigenes und sie treffen einander, entfernen sich, feuern sich aus der Ferne an und kommen wieder zusammen.

In Kolin steigen sie aus, Babicka und Vnucka, und Katzenpfötchen, Ferkel-Kraut, Teufelskralle, Läusekraut, Floh-Segge und Wollgras steigen auch mit aus.

Das kleine Mädchen hüpft an der Hand der Großmutter über das Bahngleis, zur Treppe, zur Unterführung, vielleicht steigen sie in einen Bus ein, vielleicht werden sie abgeholt, von einer Mutter, die gleichzeitig eine Tochter ist, immer ist die Mutter auch Tochter. Vielleicht werden sie von einer tochternen Mutter mit dem Auto abgeholt oder sie wohnen direkt neben dem Bahnhof, wie Boris, in einem renovierten Haus neben dem Bahnhof mit einer Holztreppe, die schön aussieht, aber nicht feuerfest ist.