Vom Bluten
Salem, Istanbul. Am übernächsten Tag treffe ich mich mit Füsün, sie bringt ihren Ehemann mit, er ist sehr jung, er hält den Kopf gesenkt, wenn er mit mir spricht. Er ist zurückhaltend, ohne schüchtern zu wirken, und es stellt sich heraus, dass die beiden sehr gläubig sind, Füsün, die Lehrerin, und ihr Mann, der einmal ihr Praktikant war und Tarik heißt.Er ist 25 und Füsün ist 40 und es hat sofort gepasst zwischen den beiden, auch wenn wir es erst nicht wahrhaben wollten, sagt sie, und dass sie wegen Tarik gläubig geworden ist, also wieder zurückgekehrt zum Glauben, meine Eltern waren eher liberal und schon ein bisschen überrascht, aber sie haben es akzeptiert. Auch seine Eltern haben es akzeptiert, eigentlich haben sie es schneller akzeptiert als Füsüns Eltern.
Der Prophet, sagt Tarik, hatte auch eine Frau, die schon 40 war, das ist bei uns nichts Besonderes. Wir unterhalten uns lange, am Tisch in der Frauenbibliothek, wir sind die einzigen Besucherinnen, es regnet seit gestern ununterbrochen, ich habe mir einen Artikel bringen lassen aus dem Archiv von Aslı Davaz, eine der Mitbegründerinnen von Istanbuls Frauenbibliothek & Informationscenter und Professorin für Gender Studies, sie schreibt über die türkische Frauenbewegung, sie hat versucht, die verschiedenen politischen Richtungen, aus denen die Frauenverbände hervorgegangen waren, links, rechts, kemalistisch, muslimisch, zusammenzubringen und sie von ihren jeweiligen Zuordnungen unabhängig zu machen. Ich erzähle den beiden und dass ich das total interessant finde, aber
Füsün zweifelt daran, dass die muslimische Frau überhaupt so etwas wie Feminismus braucht, weil der Koran die Frau sowieso als gleichgestellt ansieht, und Tarik kann mit Feminismus eh nicht viel anfangen, sagt er, wie alle Männer, sage ich und lächle erhaben, und er tappt natürlich in die Falle hinein, wer will schon wie alle Männer sein und plötzlich passiert etwas Lustiges, wir erzählen uns jetzt alle drei, was wir unter Feminismus verstehen, eigentlich sind wir nicht weit voneinander weg, nur wie weit die Gleichberechtigung schon fortgeschritten ist, darüber sind wir uns dann doch nicht so einig. Aber egal, darüber können wir ja beim Essen weiterreden, vielleicht morgen, aber erst so ab um halb neun abends, weil Tarik am Fasten ist, Füsün nicht, sie hat ihre Tage, wenn du deine Tage hast, musst du nicht fasten und beten musst du auch nicht, du hast sozusagen von 4 Wochen im Monat eine frei, sagt sie fröhlich.
Trotz Menstruation müssen die beiden aber jetzt in die Moschee gehen und ich bleibe in der Bibliothek sitzen und lese den ganzen Tag von der türkischen Frauenbewegung, die nie aufgehört hat, für die Rechte der Frauen zu kämpfen und über die Situation der Frauen zu forschen. Und jetzt fällt mir erst wieder ein, wie ich in der Nacht des 8. März über die Frauendemo in der Cihangir Straße geschrieben habe und über die Polizisten, die die Straßen abgeriegelt haben, es waren auch Polizistinnen dabei, mit und ohne Kopftuch, und wie ich am nächsten Tag alle Zeitungen am Kiosk angeschaut habe und nur eine einzige hat über die Demo berichtet. Und ich weiß nicht mehr, wo der Text abgespeichert ist, den ich geschrieben habe, während ich mein Aufnahmegerät ans Fenster stellte, um die Funkgeräusche der Polizistinnen aufzunehmen.
Blut in Beşiktas
An einer Bushaltestelle in Beşiktaş sehe ich eine Frau, die bewusstlos auf dem Boden liegt, ihr Gesicht ist voller Blut. Es ist schon ein Krankenwagen da, Menschen stehen herum und schauen auf das Blut, das den Bürgersteig rot gefärbt hat. Ich werde mein Leben lang an diese Frau denken müssen, wie sie da lag und mich fragen, was ihr geschehen ist: Wurde sie zusammengeschlagen, war es ein Unfall oder wurde sie ohnmächtig, ist auf den Boden gestürzt und hat sich die Nase aufgeschlagen? Ein paar Tage später sehe ich in Kurtuluş oder bin ich schon in Dolapdere einen Rollerfahrer, der gestürzt ist. Er liegt regungslos auf der Straße. Wie verletzlich wir sind und wie friedlich doch eigentlich, denke ich, denken alle, die vorbeigehen oder nicht vorbeigehen, die hinsehen und nicht wegsehen können, auch wenn sie es möchten. Denken die Sanitäter, die ihn versorgen. Denken die Polizisten, die den Verkehr regeln, denkt der Busfahrer, der wieder einmal Überstunden machen wird. Man muss es anschauen, das Unglück, man muss es sich einprägen, als könne man es dadurch von sich selbst abwenden. Hinter dem Unfallort staut sich der Verkehr bis nach Şişli, auf einem Mauersims sitzt eine weiße Katze und miaut alle an, die vorbeigehen, ich kraule sie zwischen den Ohren, sie fängt an zu schnurren und versucht, in meine Jackentasche zu kriechen. Leider, maleesef sage ich.
Actionarmes
Es ist Filmfestival, Annie Ernaux kommt nach Istanbul und in einem sehr schicken Einkaufszentrum in Nisantaşı läuft Jeanne Dielmann von Chantal Akerman, über deren letztes Buch Meine Mutter lacht ich gerade eine Rezension geschrieben habe. Ich sitze in meinem Kinosessel Reihe F Sitz 26 und schaue Delphine Seyrig bei jeder ihrer exakten Bewegungen zu, wie sie spült, Kartoffeln kocht, den Tisch deckt für ihren Sohn, wie ihr Sohn mit genauso exakten Bewegungen seine Suppe isst und ein Buch liest, wie Jeanne Dielmann am Schluss ihren Freier mit der Schere tötet, aber da hat ein gutes Drittel den Film schon verlassen, denn unter „Das fast dreieinhalbstündige Drama stellt drei Tage im Leben einer verwitweten Frau und Mutter in den Mittelpunkt, die auch als Gelegenheitsprostituierte arbeitet“ hat man sich möglicherweise einen actionreicheren Film vorgestellt.
Gegenüber dem Residenzhaus ist das Atlaskino, gleich um die Ecke die Yeşilcam Sokak, und diese Yeşilcam Sokak war einst eine berühmte Gasse mit dem sehr berühmten Kino Yeşilcam sinemasi und Samet, der mir Türkisch beibringt, erklärt, dass hier die Wiege des türkischen Films ist, ja, Yeşilcam steht sogar synonym für türkisches Kino, denn in den Anfängen gab es pro Film nur eine einzige Kopie, die nacheinander an die Kinos verliehen wurde, und das Yeşilcam war das erste Kino, in dem der jeweils neueste Film gezeigt wurden. Yeşilcam heißt übrigens Grüne Pinie, ein Baum, der vor allem in Anatolien vorkommt. Obwohl die großen Zeiten der Yeşilcam vorbei sind, habe ich auf dem Filmfestival sensationelle Filme aus türkischer Produktion gesehen, ich habe Gidiş o Gidiş gesehen, der sicherlich zu den 20 interessantesten Filmen gehört, die ich jemals angeschaut habe, man bekommt eine 3D-Brille, die man während des gesamten Films tragen soll, denn die 3D Einblendungen kommen plötzlich und wie eine Erscheinung aus einem anderen Wahrnehmungsuniversum und schon während des Films habe ich das Gefühl, dass ich die Welt nie wieder anderes sehen möchte als durch eine 3D Brille.
Tahatacı Fatma
Ich habe Fatma’dan 40 yil sonra gesehen, ein Dokumentarfilm, in dem es um einen Dokumentarfilm geht, der Tahtacı Fatma heißt und sehr bekannt in der Türkei ist. Ein Kamerateam hat vor 40 Jahren ein zehnjähriges Mädchen namens Fatma filmisch begleitet, Fatma kommt aus einer Holzarbeiterfamilie in einer der ältesten Regionen Anatolien. Die Tahtacilar sind alevitische Nomaden und der Film von Suha Arın zeigt ihr Leben in den Wäldern, ihre Arbeit, ihre Bräuche. 40 Jahre später nun treffen sich die Protagonist:innen wieder, die Kameraleute und die Tahtacilar, die mittlerweile sesshaft geworden sind und natürlich Fatma, der Star des Films, um die 50 ist sie jetzt, sie reist mit ihrer Tochter an, und dann sprechen sie wieder in die Kamera und darüber, dass heute alles besser ist, nur die Freiheit, die fehlt ihnen, und der Wald und das alte Leben, aber sie sind nicht nostalgisch, sie nehmen es mit Humor. So müssen Dokumentarfilme sein, so unprätentiös und ohne säuselnde Musik im Hintergrund, man hört das Knirschen der Schuhe auf dem Weg, wenn die Schuhe auf den Kieseln knirschen, und Musik hört man nur, wenn im Film jemand tatsächlich Musik macht und am Ende tanzen alle zusammen, sie tanzen ganz langsam, wie Leute in einem Altenheim tanzen, und es ist sehr schön, ihnen zuzusehen. Es ist sozusagen das Gegenteil von einem Actionfilm.