WHEREAMiNOW – Istanbul’da (5)

Vom Regen

Nasılsın, Istanbul? Ben de iyiyim, teşekkür ederim.
Es gibt gute Tage und es gibt schlechte Tage, und es gibt die Sprache, die nicht ausreicht, um alles zu beschreiben, was ich wahrnehme, und auch nicht das: wie ich wahrgenommen werde an diesem Ort, denn der Ort entscheidet mit darüber, wer du bist. Ich ist nicht gleich Ich, wie Mark Fisher (Das Seltsame und das Gespenstische) differenzierte, es gibt das Ich, das nach draußen schaut und sich selbst dabei vergisst, und es gibt das Ich, das vom Außen wahrgenommen wird und darüber das Außen vergisst.

Die guten Tage gehören meinem Ich, das sich selbst vergisst, die schlechten die, an denen ich in eine viel zu kleine Bedeutungsblase eingesperrt bin und da hilft auch keine Sprache, weder die Mutter noch eine neue Sprache – wobei die neue hilft doch ein bisschen. Die neue Sprache ist ein Weg in dieses Gegenüber-Ich, ein weiter Weg zwar, aber ein Weg, bir yol, ach könnte man nur die neue Sprache schon besser.

Überhaupt die Sprachen, die deutsche, die türkische, die englische, seit neuestem wollen sie alle in einem Zimmer schlafen, und am Morgen haben sie die Schlafanzüge getauscht. Heute Nacht hatte ich einen Traum, in dem ich eine wilde Serie träumte und auf einer Metaebene dachte ich darüber nach, wie ich diese Träume festhalten könnte und eigentlich, so die Metabene gegen Morgengrauen, ist es doch ganz einfach, du speicherst einfach alles in einem Pdf ab. Das Pdf heißt rüya gördüm, ich habe einen Traum gesehen, und, was soll ich sagen, es hat tatsächlich funktioniert. Nur weiß ich nicht mehr, wo ich das Pdf abgespeichert habe.

Die andere Seite

Zurück zum Gedächtnisprotokoll, das ich schreibe, wenn ich wach bin und durch die Straßen laufe, oft Richtung Bosporus, wenn ich mit der Fähre auf „die andere Seite“ fahre, welche auch immer diese andere Seite ist. Manchmal ist es auch nur die andere Seite der Galatabrücke. Es regnet in Strömen, ich war gerade im Fotoladen in Sirkeci und habe meinen analogen Film zum Entwickeln gebraucht, ich laufe mit meinem halbkaputten Regenschirm Richtung Tramvaystation, ich bleibe stehen vor einem alten Gemäuer mit Infotafel, das Gelände gehört zur Blauen Moschee, ich lese die Tafel, die Blaue Moschee war nicht nur die Moschee, sondern auch ein soziales Zentrum mit Wohnungen, Hamam und Schule und stehe etwas unschlüssig vor dem Eingang, ob ich hinein gehen soll, ein Mann quetscht sich an mir vorbei und bedeutet mir, den Innenhof anzuschauen, er fragt mich, ob alles ok ist, ich sähe so scheu aus. Ich bin scheu, denke ich, sage aber, es sei alles ok.

Ich sei hier sicher, sagt er und schon entsteht wieder diese Situation, in der ich mir meiner eigenen Anwesenheit schmerzlich bewusst bin. So wird das nichts mit der Ich-Vergessenheit. Ich sage etwas Lockeres, wie ich immer etwas Lockeres sage, wenn ich mich unwohl fühle und der Mann und ich gehen jetzt zusammen Richtung Sirkeci, er wird ziemlich nass, der Arme, ich biete ihm nicht an, unter meinem kaputten Schirm mitzulaufen, das Wasser läuft uns aus allen Richtungen entgegen und an anderen Stellen überholt es uns, das kann nur das Wasser (und das Licht) und der Mann will wissen, was ich in Istanbul mache und will wissen, worüber ich schreibe und ich sage, über Quantenphysik zum Beispiel und er fragt, warum nicht über die Liebe, und ich sage, Quantenphysik sei Liebe. Der Mann ist mittlerweile so nass, dass er die Begleitung abbrechen muss, und ich gehe gut gelaunt weiter, meine Jeans ist unterhalb der Knie kalt und schwer, aber das macht nichts –

Nicht Halit Ziya Uşaklıgil, das Urlaubsfoto habe ich auf dem Flohmarkt in Feriköy gekauft

denn jetzt stehe ich schon an der İstasyon, und eine Frau fragt mich auf Türkisch, wie sie nach Kabataş kommt und ich sage ihr, sie solle in die nächste Bahn einsteigen, denn diese hier fährt nur bis Eminonü, und die Frau und ich sind beide überrascht, dass ich das jetzt wirklich auf Türkisch gesagt habe. Sie wohnt in Yeşilköy, das heißt Grüne Bucht, und als ich zuhause bin, schaue ich nach, wo Grüne Bucht ist. Vor dem schnellen Bevölkerungs-Wachstum in Istanbul in den 1970er Jahren war Yeşilköy ein Dorf und Badeort, steht auf Wikipedia, und es werde gemunkelt, dass der in Yesilköy lebende Schriftsteller Halit Ziya Uşaklıgil dem Viertel den Namen gab, weil er das Grün und die Natur so liebte.

In meinem Lieblingscafe gibt mir der Kellner eine Zigarette, er mag Orhan Pamuk und kennt selbstverständlich auch Leylâ Erbil, er hat Geschichte studiert, aber es seien 25.000 Lehrer arbeitslos in der Türkei, deshalb muss er in der Kneipe arbeiten. Sein Kollege ist klassischer Gitarrist, er hat am Konservatorium studiert, er liebt Bach, Bach ist der Größte, aber aussichtslos, eine Anstellung zu finden.

Atome, die miteinander verschmelzen

An der Galatabrücke gibt es einen Tumult, ein vielleicht 12 jähriger Junge, läuft an mir vorbei und stolpert, Panik in seinem Gesicht, fast fühle ich seinen Herzschlag, und schon ergreift eine große Hand den Jungen an der Kapuze, ich versuche dazwischen zu gehen, aber der Mann, der zur Hand gehört, schubst mich zur Seite. Die Art, wie er den Jungen am Genick packt: als würde er gleich eine Katze ertränken. Der Junge schreit wie ein Tier, in einer Mischung aus Angst und Drama. Der Griff des Mannes ist entwürdigend, für alle, die zusehen, und er soll auch eine Entwürdigung sein, eine Demütigung, die uns allen jederzeit blühen kann, und jetzt mischen sich auch andere ein, er soll den Jungen freilassen, aber der Mann hat jetzt in seiner anderen, der freien Hand ein Handy und telefoniert mit der Polizei. Offenbar handelt es sich um einen versuchten Diebstahl. Die entschlossene Hand des Mannes, der aussieht, als sei mit ihm nicht zu spaßen, auch ohne versuchten Diebstahl nicht, und der Nacken des Jungen verschmelzen miteinander und werden zu einer Masse; und der Junge wird ein Leben lang die Hand des Mannes in seinem Nacken spüren, und die Finger des Mannes werden ein Leben lang klebrig bleiben, vom Angstschweiß des Jungen, von seinen Hautpartikeln und vielleicht werden auch ein paar Haare hängen geblieben sein. Der Junge ist vielleicht 12, der Mann an die 40, und einer wird früher sterben als der andere und mit ihm zusammen die kleinen feinen Teile des anderen, unsichtbar gewordenen Körpers.

Auf der Suche nach Leylâ Erbil

Auf dem Bücherbazar Sahaflar Çarşisi in Beyazit suche ich eine englische Übersetzung von Leylâ Erbil, Leute, sie war immerhin für den Nobelpreis vorgeschlagen, wieso kennt ihr sie nicht!?, Ein Buchhändler kennt sie, aber er hat kein Buch von ihr, auch nicht auf Türkisch, stattdessen trägt er mir Gedichte vor von einem Poeten, der hier ganz in der Nähe gelebt hat*, es sind sehr schöne Zeilen, die er auswendig rezitieren kann, in diesem kleinen Laden am Rande des Großen Bazars. Eine sehr schöne Frau betritt den Laden, wir schauen uns an, und ein bisschen ist es gleich um uns geschehen, sie übersetzt Türkisch und Englisch zwischen dem Buchhändler und mir, hin und her, und am Ende sprechen wir Deutsch, sie wohnt nämlich in Stuttgart und ist gerade zu Ramazan auf Verwandtenbesuch. Leylâ Erbil kennt sie auch nicht, hört sich aber interessant an, findet sie, kennst du die Frauenbibliothek, frage ich, nein kennt sie nicht, da will ich morgen hin, wollen wir uns da treffen, morgen um halb 11?
* Ahmet Hamdi Tanpınar

Offener Vollzug

Am nächsten Tag ist die Frauenbibliothek in Fatih geschlossen, ich fahre nach Kadıköy, ich sitze auf einer Bank, ich fahre meistens mit den Turyolschiffen, die ein bisschen heruntergekommener sind, aber der Tee ist besser, rede ich mir ein, der Tee kostet 8 Lira, ich schaue durch das Fenster, wo ein Mann gerade seine Einkäufe abstellt, er sieht mich und bedeutet mir, auf die Einkäufe aufzupassen, ich nicke zustimmend und er verschwindet auf die Toilette. Später bedankt er sich und setzt sich mir gegenüber auf die Bank, er spricht Türkisch und ich kann nur erraten, was er mich fragt, wo ich herkomme und was ich mache und wo ich hinfahre. Kino mit meinen Freunden, sage ich, das kann ich schon sagen, und auch dass ich in Beyoğlu wohne und für 3 Monate in Istanbul bin. Ich frage ihn, was er macht, und er sagt Samsun, und ich denke, dass ich das Wort irgendwie kenne, ist er so vielleicht etwas wie ein Richter? Der Mann, der vielleicht ein Richter ist, hält jetzt jedoch die Hände aneinander, so dass seine Handgelenke einander berühren,  und wirft mir einen tiefsinnigen, ein bisschen verschämten Blick zu, und jetzt denke ich, will er mir vielleicht sagen, dass er ein Strafgefangener im Offenen Vollzug ist? Dass ein Richter ihn verurteilt hat. Vielleicht hat er deshalb soviel eingekauft, weil er ja nicht so oft die Gelegenheit hat dazu. Gibt es im türkischen Strafgesetzbuch die Option Offener Vollzug? Ich kann es mir irgendwie nicht vorstellen, aber das heißt ja nichts. Die Fahrt nach Kadıköy dauert 20 Minuten, Kadı, fällt mir jetzt ein, heißt Richter, offenbar läuft in meinem Kopf schon wieder einiges durcheinander, und in diesen zwanzig Minuten Fahrt stellt sich Folgendes heraus: 1. Samsun ist eine Stadt am Schwarzen Meer. 2. Der Mann ist 56 und ich bin 55 und der Mann findet, dass das gut zusammenpasst. 3. Der Mann möchte wissen, ob ich verheiratet bin und Kinder habe. 4. Als wir ankommen, sage ich gute Reise noch und der Mann ergreift blitzschnell meine Hand und küsst sie. Ich muss lachen und mein abwesendes Ich schaut mir genervt beim Lachen zu. Drei Wochen später gehe ich eine Treppe in den fünften Stock hoch und wieder fällt mir die rätselhafte Geste des Mannes auf der Fähre ein. Wahrscheinlich wollte er mir einfach nur sagen, dass er verheiratet ist.