LAUDATIO anlässlich der Verleihung des Mara-Cassens-Preis 2024
an NORA SCHRAMM für ihren Debütroman „Hohle Räume“
Das deutsche Einfamilienhaus steht im Fokus des Romans „Hohle Räume“, der heute mit dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet wird. Knapp 70 Prozent der Deutschen halten das Wohnen im Eigenheim für die ideale Lebensform. Würden sie doch nur diesen Roman gelesen, dann wüssten sie, dass die Impulse, die von einem Einfamilienhaus ausgehen, die Welt wohl eher nicht retten werden!
Die Handlung dieses Debüts ist auf den ersten Blick unspektakulär: Die Tochter, eine in Berlin lebende Künstlerin, fährt zu den Eltern aufs Land in die deutsche Provinz. Die Mutter nervt durch aufdringliche Fürsorge, der Vater tappt aufreizend wortkarg und unbeholfen durch die Handlung. Die Nachbarn sind mehr oder weniger kaputte Existenzen, der Hund heißt Tobias. Zur Einführung eine kurze Szene aus dem Roman. Helene ist gerade bei den Eltern angekommen, man sitzt zusammen am Esstisch im Einfamilienhaus. Die Eltern lassen sich scheiden, und das erwachsene Kind soll seinen Beitrag leisten, um die Hausgemeinschaft im Eigenheim aufzulösen.
Die Lebenslügen der Eltern anhand passiv-aggressiver Gespräche am Esstisch zu entlarven, ist nun wahrlich kein neuer Topos in der Literatur. Doch die Gnadenlosigkeit, mit der Nora Schramms ihre Ich-Erzählerin Helene mütterliche Fürsorge und väterliches Schulterklopfen sezieren lässt, ist es vermutlich schon. Gekonnt werden hier die Vorstellungen der Elterngeneration vom „richtigen Leben“ wie an einer Perlenkette vorgeführt: In der Welt von Mutter Clara und Vater Thomas geht man nicht einfach spazieren, man „macht eine Gehmeditation“, Melancholie ist nichts anderes als „ästhetische Traurigkeit“ und ein Arzt, der feststellt, dass er keine Menschen mag, sattelt um und wird Pharma-Referent. Es herrschen ungeschriebene Gesetze der Straße, zum Beispiel, wer wen wie grüßt und das dörfliche Miteinander beruht auf Weisheiten wie „in einer Demokratie muss jeder Zettel genau dort hängen bleiben, wo er aufgehängt wurde“ – es sei denn, es geht um Eigentumsverhältnisse.
Dieser Verweis auf Erstarrungsphänomene der Demokratie kommt nicht von ungefähr. Nora Schramms Art zu schreiben erinnert, auch wenn sie aus Rheinlandpfalz stammt, an die Tradition bitterböser österreichischer Literatur, deren Erkennungsmerkmal der private Sumpf ist, der im Kleinen widerspiegelt, was die politische Bühne groß inszeniert. Die Situation in Deutschland ist nicht grundlegend anders, und wie wichtig sind deshalb Autorinnen, die in der Lage sind, aus vermeintlich privaten Stimmen einen Chor der kollektiv Erstarrten zu komponieren.
„Hohle Räume“ ist radikale Literatur. Radikal in der Figurenzeichnung, in der Sprache, in der Dramaturgie.
Radikal in seiner Dramaturgie deshalb, weil Menschen, wenn sie in der Lage sind, sich aus ihrer Erstarrung zu lösen, auch anfangen, eine andere Denkstimme zu entwickeln. Als ihre Romanfiguren nämlich endlich begreifen, dass sie Gefangene ihrer eigenen Muster und Gegenmuster sind, ändert Nora Schramm den Ton ihrer Erzählung, aber sie tut es so diskret, dass man es zunächst gar nicht bemerkt. Wo gerade noch die Ich-Erzählerin ihre Umgebung kühl auf ihre Schwachstellen abklopft, erzählt sie von sich selbst und nimmt eine Verbindung zu dieser Umgebung auf. Plötzlich sind sogar unironische Dialoge möglich. Eine Figurenentwicklung entlang seiner sprachlichen Nuancen zu erzählen, ist ein Kunststück und ich nenne das radikale Dramaturgie, weil dahinter eine radikale Hinwendung einer Autorin zu ihren Figuren steht. Weil nicht sie den Ton angibt, sondern weil sie zuhört, was ihre Protagonistinnen zu sagen haben. Weil hier bei aller Virtuosität nicht die Sprachkunst glänzen will, sondern die Kunst selbst zur Protagonistin wird, indem sie etwas erkennen, etwas begreifen und verändern möchte – und wie könnte eine Sprache vor einer solchen Veränderung dieselbe sein wie danach.
Was zunächst als real wahrgenommen wird, lässt der Text nun zunehmend ins Surreale verschwimmen, ohne dass man eine klare Grenze ziehen könnte, was nun real ist und was als Realität erlebt wird, und richtig spooky wird’s, wenn das Einfamilienhaus zur eigenständig handelnden Figur mutiert, die bestimmt, was seine Bewohner:innen denken, fühlen, sagen. Doch erst als die Mutter sich bei einem Sturz im Haus die Hüfte bricht und die verschwunden geglaubte Pflegetochter Molly auftaucht und dafür sorgt, dass nicht übereinander, sondern miteinander gesprochen wird, erst als die starren Rollen in Bewegung kommen und die Figuren – zumindest die weiblichen, muss man leider sagen – dieses kafkaeske Haus verlassen und sich gemeinsam auf die Reise machen, gelingt auch Tochter Helene der Ausbruch aus den Hohlräumen ihres eigenen Denkens.
„Fühlen ist rational und eine richtig ernste Sache, vielleicht die ernsthafteste, die es gibt.“
Dieser Satz aus Nora Schramms Bewerbung für das 1:1-Mentoringprogramm des Literaturbüro NRW ist mir im Gedächtnis geblieben. Dass sie eines Tages eine preisgekrönte Autorin sein würde, war mir klar, als ich die Bewerbung und die beiliegenden Texte gelesen hatte. Ich hatte zwar keinen Zweifel daran, dass ich gerne als Mentorin mit ihr arbeiten würde, dennoch beschäftigte mich eine Frage: Braucht diese Autorin überhaupt eine Mentorin? Die Qualität der Texte war ja bereits dermaßen hoch, dass sie ganz sicher ihren Weg auch ohne mich gehen würde.
Kurzum, Sie ahnen es schon: Wir kamen zusammen und schon bald trafen wir uns an einem kalten Wintertag 2020, an dem keine Cafes und keine Restaurants aufhatten, an einer Parkbank in Köln. Wir waren verabredet zum Spazierengehen und Tee aus Thermoskannen trinken und ich nahm mal vorsichtshalber eine zweite Tasse für sie mit, bei so jungen Leuten weiß man nie, dachte ich, die vergessen schon mal, dass man Tee aus einer Tasse trinkt.
Interessanterweise hatte Nora auch eine zweite Tasse dabei.
Ein Jahr lang trafen wir uns, sie schickte mir ihre Texte, wir sprachen darüber. Nicht nur ihre Produktivität während dieser zwölf Monate war erstaunlich, sondern auch die Souveränität ihres Schreibens, das Formbewusstsein, die Ambivalenz, Traurigkeit und Klugheit ihrer Figuren und ganz ganz besonders der Ton, der nicht oft genug zu erwähnen ist. Es ist ein Ton, der nicht in die Figur gepflanzt wird, sondern der aus den Figuren selbst wächst. Und diese Figuren sagen und denken viele dieser seltsamen, ja irgendwie wahrhaftigen Sätze, die über die Lektüre hinaus hängen bleiben werden. Aus dieser mit Fingerspitzengefühl und großem Zuhörvermögen entwickelten poetischen Sprache, aus ihrem befangenen und dennoch differenzierten Blick auf die Welt, ist ihr etwas gelungen, was eine Autorin erst zu einer Schriftstellerin macht: eine ganz eigene Stimme zu entwickeln, die gehört werden möchte und die gehört wird. Bereits in diesen frühen Texten ist es die Kunst, die sich zum Widerstand gegen Herrschaftsstrukturen aufgerufen fühlt; jedoch nie plump oder agitatorisch, immer subtil und melancholisch, manchmal auch opportunistisch und am Sinn des eigenen Tuns zweifelnd. Denn bei Nora Schramm ist Widerstand keine bloße politische Verortung, sondern immer auch ein Widerstand gegen die eigenen verinnerlichten Mechanismen. Vermutlich nur so kann der Mensch seiner eigenen Versteinerung entgegenwirken.
Früh also hat Nora Schramm diesen Sound entwickelt, der von analytischer Kraft nur so strotzt und dabei so hochemotional, von großer Dringlichkeit ist. Parallel zur Prosa begann sie auch, Theatertexte und Gedichte zu schreiben, und wurde in diverse Künstlerresidenzen eingeladen, um an ihrem ersten Roman schreiben zu kommen. Es dauerte nicht lange, bis eine Agentur auf sie aufmerksam wurde, wie prophezeit übrigens ganz ohne meine Hilfe, und sie ihren ersten Vertragsverlag bei Matthes & Seitz in den Händen hielt. Bereits im Herbst wurde sie für Hohle Räume mit dem Kranichsteiner Literaturpreis des Deutschen Literaturfonds ausgezeichnet.
Und nun hat sich also auch die Jury des Mara-Cassens-Preises in ihren Sound verliebt, . Dieser Sound, er trägt uns nicht nur durch die Geschichte von Helene, Irene, Thomas, Renate, Giesi und Molly, sondern auch über den letzten Satz und die letzte Seite hinaus. Mit dieser Stimme kann Nora Schramm uns alles erzählen, aber auch wir können uns darin unseren eigenen Zustand deutlich machen, der eben keine Privatsache ist. So muss eine Stimme sein, die die eigene Situation und Herkunft reflektiert, ohne andere Perspektiven auszuschließen. Und wenn Figuren ihr Fühlen, diese ernsthafteste Sache der Welt, verändern, weil sie sich von den Gefühlen und Positionen anderer beeinflussen lassen, ist das ein literarischer Glücksfall.
Bevor Sie sich jetzt auf die Autorin und ihr Buch stürzen, muss ich eine Lesewarnung aussprechen. Ich sehe hier doch einige Menschen der Generation Babyboomer sitzen (und auch ich zähle mich jetzt mal großzügig mit dazu): Ich habe durchaus gelitten bei diesem Buch und auch Sie werden vermutlich schon nach kurzer Zeit leiden. Ja, dieses Debüt ist äußerst schmerzhaft zu lesen, und das Gemeine ist, sie können es nicht einfach weglegen, Sie sitzen nämlich schon mittendrin. Möglicherweise handelt es sich hier um Buch, in dem das, was sie vielleicht als ihre Werte, als ihre Identität bezeichnen, sehr sorgfältig, ja fast pedantisch zerlegt wird in seine Bestandteile.
Anwesende der jüngeren Generationen mögen sich jetzt entspannen, aber leider leider auch für sie gilt meine Lesewarnung. Denn kaum sind sie mit dem Kopfnicken fertig, sind sie selbst dran mit Dekonstruiert werden. Sie werden in ihr ehemaliges Jugendzimmerbett pinkeln, superpeinliche Dinge beim Treffen mit ihren ehemaligen Klassenkameraden sagen, aus der Garagenauffahrt einen Sandkasten machen und in einem mumifizierten Anzug schlafen und schließlich werden sie ihre ehemalige beste Freundin aus nicht ganz so gutem Hause wiedersehen, die sie zutiefst beschämt, in dem Sie ihnen folgendes mitteilt: Weißt du, es gibt auch Menschen, die sich für andere interessieren.
Aber ich verspreche Ihnen: Wenn Sie trotz Lesewarnung stark waren und „Hohle Räume“ zu Ende gelesen haben, wenn ihnen das Lachen beim Lesen dieses lustigen bösen Buches nicht nur einmal im Hals stecken geblieben ist, wenn sie bittere Tränen der Wut und des Mitgefühls geweint haben und plötzlich feststellen, dass sie schon seit geraumer Zeit gegen die Wände ihrer Behausung klopfen, dann werden sie am Ende doch belohnt. Mit generationenübergreifendem Erkenntnisgewinn und großem Lesevergnügen.
Liebe Nora Schramm, ich gratuliere dir zum Mara-Cassens-Preis und ich bin voll stolz auf dich!
(gehalten am 15. Januar 2025 im Literaturhaus Hamburg)