Bericht aus Quebec. (4)

Siehe auch unter literaturportal-bayern.de

11.10.

Vom ersten Tag an habe ich mich wohl gefühlt in Quebec. Zunächst habe ich dies auf meine hohe Bereitschaft geschoben, mich Hals über Kopf in Städte, Orte, und Plätze zu verlieben. Dann auf meine Dankbarkeit, überhaupt hier sein zu dürfen. Das alles mag eine Rolle spielen. Während meiner ausgedehnten Spaziergänge durch die Stadt ist mir jedoch aufgefallen, wie viele Attribute sie doch von denen aufweist, mit denen Edward Relph place definiert hat:

  • Natur und Kultur gehen ineinander über (sehr viele Bäume, sehr viel Grün). Zwei Flüsse fließen durch die Stadt und prägen den urbanen Raum.
  • An nahezu jedem dieser Orte kann man sein, ohne dass man dafür etwas tun muss – weder Eintritt zahlen noch konsumieren noch irgendeine Funktion erfüllen.
  • Jeder Platz sieht anders aus.
  • Die Menschen, die sich an den Plätzen aufhalten oder aufgehalten haben, geben ihm eine Bedeutung (siehe letzter Post über die Kaffeebecherhalter), indem sie sich in einer Geste oder Handlung auf den Ort beziehen.
  • Es gibt keine Fußgängerzonen, die aussehen wie alle Fußgängerzonen auf der Welt, weil fast ausschließlich große Marken und Filialketten vertreten sind. Es gibt gar keine Fußgängerzonen außer temporären: an den Wochenenden sind viele Straßen für Autos gesperrt und die Leute sitzen auf ihren eigenen Sitzmöbeln oder von lokalen Initiativen gestalteten Sitzgruppen auf der Straße und trinken Bier.
  • Über die wunderbaren Treppen habe ich bereits im letzten Beitrag geschrieben, tatsächlich wird den Escaliers auch offziell besondere Aufmerksamkeit geschenkt. 2022 wird sogar das Jahr der Treppe in Quebec. Hier eine tolle Beschreibung vom Wesen der Treppe:
Seltsamerweise bringt diese endlose Treppe die Leute dazu, sich zu grüßen, sich anzulächeln und sogar mit einander zu sprechen. Höchstwahrscheinlich besitzt sie sogar therapeutische Fähigkeiten (Jacques Coté; Les amities inachevées
  • Plätze und Parks sind oft einem Thema gewidmet, d.h. sie haben eine Geschichte, die dort dokumentiert ist (da sich hier vor allem Einheimische aufhalten, richten sich diese Dokumentationen an die Einheimischen). In Sainte-Saveur – einen eher unscheinbaren Wohnviertel – ist beispielweise die Chansonette Alys Robis aufgewachsen, an einem ihr gewidmeten Platz sind in das Pflaster die Titel ihrer Alben eingraviert.
  • Offenbar werfen hier so gut wie alle Menschen ihren Müll in einen Mülleimer. Was möglichweise daran liegt, dass an jeder Ecke auch solche stehen, große und wirklich schön gestaltete Mülleimer, die niemanden stören. Genauso ist es mit öffentlichen Klos. Sie sind kostenlos und sauber. Vielleicht hat Quebec mehr Geld als deutsche Städte zur Verfügung, vielleicht kalkulieren sie aber auch anders.

Mega Shopping Malls und Liebeskummer

Allerdings trifft dieses faszinierende Ort-Raum-Management nicht auf alle Stadtviertel zu. Statt Fußgängerzonen gibt es hier zum Beispiel die Galeries de la Capitale, eine Mega Shopping Mall in der Größe einer kleinen Stadt, mit sämtlichen bekannten und unbekannten Ketten dieser Welt. Und auch am Place de Saint-Foy bin ich endlos durch Einkaufszentren gestapft; dort halten die Leute einander nicht einmal die Tür auf.

Währendessen kommt man auf der Escalier de Faubourg mit wildfremden Menschen ins Gespräch wie mit dem spanisch-französischsprechenden Kanadier, der mich fragt, woher ich komme und ob ich nach Limolieu gehe, dort habe er lange mit seiner Frau gewohnt, und während wir die Treppe hinuntergehen, erzählt er, dass sie ihn dann leider rausgeworfen habe. C’est dommage, sagte ich, und er sagte, nous sommes encore des amis. Wir sind noch Freunde. Oder im Cartier-Vierel , wo eine melancholische Verkäuferin aus Frankreich mir erzählt, sie sei vor vier Jahren aus Liebeskummer nach Quebec gezogen – pour oublier. Orte sind Orte, an denen man sich auch die traurigen Geschichten erzähen kann.

Mein Vorschlag wäre, auch Einkaufszentren zu Orten zu machen, an denen wir unsere traurigsten Geschichten erzählen können. Und seien es nur die Geschichten über die Einkaufszentren.

Geschichte aus dem Einkaufszentrum

Und weil es gerade passt, kommt hier ein kleiner Auszug aus Spukhafte Fernwirkung:

Intersport

(auszug aus: Spukhafte Fernwirkung)

Nicos erste Erinnerung an das Einkaufszentrum ist, dass er an der Hand seiner Mutter über den Flur A geht, dass alles gleich aussieht, aber nur auf den ersten Blick. In einem Geschäft gibt es Fleisch, im anderen Kleidung, es gibt Läden mit Büchern, mit Süßigkeiten, mit Lampen, mit Fahrrädern, mit Plüschtieren, es gibt Autos und Lokomotiven, in die man sich hineinsetzen kann, einen Elefanten, auf dem er gerne reiten würde, aber es kostet etwas, das geht nicht. Die Hand seiner Mutter hält ihn fest, er staunt, er empfindet Ehrfurcht, er ist dankbar, er weiß nicht genau, wofür. Außer Fleisch und ein Paar billigen Schuhen bei Intersport kaufen sie nichts, noch nicht einmal ein Eis bekommt er. Als er älter ist, kauft seine Mutter ihm Geodreiecke, Turnsachen und neue Jeans. Er geht jetzt nicht mehr an ihrer Hand, sondern trottet neben ihr her. Seine Mutter hat einen erstaunlich schnellen Gang, er würde lieber langsamer gehen. Nur ein einziges Mal hat sie ihm teure Adidas gekauft, das war im Sommer, bevor er in die Realschule kam. Wenn er am Grab seiner Mutter steht, fühlt er nichts, nur wenn er an dem Sportgeschäft vorbeigeht, spürt er wieder ihre schweigsame Hand.

Er hat sich mit seinem Vater im Eiscafe Diana getroffen, der Vater ist alt geworden, seine Haare sind schlohweiß, er schimpft auf die Jugend, auf die Ausländer und auf die Ärzte, er schlurft seinen Kaffee aus, dann geht er wieder, ohne ein einziges Mal gefragt zu haben, wie es Nico geht. Da Nico es nicht anders kennt, fällt es ihm nicht weiter auf. Er bleibt noch ein bisschen sitzen, dann steht er auf, geht zu Intersport und schaut sich verschiedene Sporttrikots an, Nike, Puma, Saucony, Adidas. Er nimmt zehn Trikots mit in die Kabine, obwohl nur drei erlaubt sind. Aber noch nie hat ihn jemand daran gehindert oder auch nur darauf angesprochen. Nach dem vierten Trikot schaut er auf sein Handy, das gepiepst hat.

English Version

How does a shoppingmall become a place?

In the Galeries de la Capitale, it’s a mega shoppingmall as large as a village, you will find every known and unknown chain in the world.

And also in Place Saint-Foy, I was strolling around a mall without end; that is a place, where people don’t evenhold the door open for each other. They are the same people but the place gives their encounters another meaning. One walks straight through the mall without an aim, the place makes clear what it wants. Buy, buy, buy, don’t waste time on odds-and-ends.

In contrast, on the Escalier de Faubourg one may become unintentionally involved into conversations with strangers. For example the french-spanish speaking canadian, who asks me, where I come from and if I was going to Limoliou. Yes sure. Oh well Limoliou, he responded, as we were descending the staircase, he had lived there with his wife, before she threw him out. C’est dommage, I said, and he said, nous sommes encore des amis. We are still friends.

Places are places where you can tell your sad stories as well.

So why don’t we turn malls into real places where we can tell each other our saddest stories – even if it’s just a story about the shopping malls.