WHEREAMiNOW – Istanbul’da (4)

Freiheit ist eine Girlande aus Thermopapier

İyi günler dilerim, Boğaz. Ich fahre mit den Fähren von Karaköy nach Ortaköy, mit einem Buch in der Hand, ich lese, aber eigentlich lese ich nicht, sondern denke darüber nach, warum ich nicht das tue, was ich eigentlich hier tun wollte, über einen bestimmten Ort zu schreiben, und dieser Ort heißt Zwischen. Mit Leuten wollte ich auf den Fähren zu sprechen, weil die Fähren besondere Orte des Zwischen sind, flüchtige Orte, aber dennoch keine Nicht-Orte, denn mit jeder Fähre und mit jeder Fährfahrt sind Gefühle verbunden, Gedanken und Erinnerungen, so wie der Bosporus eine Verbindung zwischen zwei Orten, ja zwischen zwei Kontinenten ist, aber andererseits auch ermöglicht, sich von diesen Verbindungen zu lösen, immer wieder aufs Neue.

Immer wenn ich das Wasser zwischen mir und meinen Eltern hatte, fühlte ich mich frei, schreibt Emine Sevgi Özdamar, und genau diese Freiheit wollte ich mir erzählen lassen auf diesen Fahrten, deren Geheimnis mir vor vielen Jahren einmal zwei Geschäftsfrauen verraten hatten. Wir saßen in einem Restaurant in Beşiktas zum Lunch, sie hatten wahnsinnig viel zu tun, die beiden, und dann noch die Familie, sagten sie, und dass der einzige Ort, an dem du in Istanbul zur Ruhe kommst, der wirklich einzige Ort die Fähre sei, du setzt dich hin und bist im Reinen mit dir, und sie sprachen über die Fähre wie über einen heiligen Ort und ich sah das Flackern in ihren Augen und wusste, dass es stimmte.

Ein Teil des Ortes werden

Ich sitze auf dem Oberdeck, denn heute scheint die Sonne, der Teeverkäufer hat mir Tee gebracht, ich bestelle immer çay açik şekersiz, weil sich das so schön anhört. In Eminönü steigen ein Mann und sein Sohn zu, der Junge ist vielleicht zehn, er hat Pausbacken und er strahlt, wie man vielleicht nur strahlt, wenn man das erste Mal auf so einem Schiff ist, das von Europa nach Asien fahren kann und von Asien nach Europa, er steht an der Reeling und schaut verzückt auf die Wellen und die Möwen, dieses Entzücken, dich selbst an einem Ort zu wissen, den du nur von Erzählungen kanntest, von dem du vielleicht geträumt hast, ohne zu wissen, was du dir davon versprochen hast. Dem Ort, das weißt du selbst, ist es egal, aber das ändert nichts an deinem Verzücktsein darüber, in diesem Moment Teil des Ortes zu werden, der schon immer Teil deiner Träume war. Orte verändern dich, und wir alle möchten von Orten verändert werden, auch wenn wir nicht wissen, wie, und wir hoffen, der Ort wird es schon wissen, irgendwie. Es gibt Menschen, die sich mit Orten verheiraten, vielleicht sogar Kinder zeugen, und diese Menschen sind wir alle.

Während der Junge aufs Meer starrt und auf die Möwen und auf die dutzend anderer Boote und Schiffe und Fähren, die geschäftig kreuz und quer über den Bosporus fahren, zerreißt der Vater seinen Kassenzettel, der zugleich das Einmalticket für die Fahrt mit der Fähre ist, aber jetzt sehe ich, dass er den Kassenzettel gar nicht in Stücke reißt, sondern schmale Streifen in das Thermopapier reißt, und zwar so, dass der Zettel immer länger und länger wird, weil der Mann darauf achtet, die Streifen nicht bis zum Ende einzureißen, sondern rechtzeitig kehrtzumachen und sich in die Gegenrichtung vorzuarbeiten; die Übergangsstellen werden behutsam umgeknickt, so dass am Ende eine lange fragile Girlande aus Thermopapier entstanden ist in den Händen des Mannes, die sehr klein und ein bisschen geschwollen sind, und der Nagel des Mittelfingers ist ganz schwarz, denn da hat der Mann sich ein Hämatom zugezogen, das zum Glück schon am Verheilen ist. Der Mann mit dem Hämatom reicht dem Sohn nun ein bisschen verlegen die soeben fertiggestellte Girlande, der Sohn strahlt über die Girlande, wie er über die Möwen und das Meer und die Bosporusschiffe strahlt, und lässt sie im Wind flattern.

Haarnadeln aus dem Badezimmerschrank meiner Mutter

Auf den Plätzen gegenüber hat eine johlende Gruppe junger Männer ihre Liebe zu den Möwen entdeckt, sie brechen kleine Stücke aus ihren simitler und werfen sie den kreischenden Vögeln zu, und der Junge, der Vater, die Girlande und ich verfolgen mit angehaltenem Atem die Fangkünste der Möwen, müssen aber feststellen, dass die Möwen keine Meister der Brotfangkunst sind, tatsächlich wird kein einziges Brotkrumen im Flug gefangen, alles landet im Wasser und geht sofort unter, die Jungs werfen und werfen und werfen, die Möwen kreischen und kreischen und kreischen und sehen nicht gerade vorteilhaft aus, beim Versuch, ihren Flug zu stoppen, um einen Krumen mit dem Schnabel zu fangen, für die Bremsmanöver fahren sie ihre dicken Krallen aus, die wie die altmodischen Haarnadeln aus dem Badezimmerschrank meiner Mutter aussehen, und die Jungs sehen nun zunehmend enttäuscht aus, und der Sohn sagt etwas zu seinem Vater, der Vater sagt auch etwas, er bemerkt, dass ich ihnen zusehe, und lächelt mich an und ich lächele zurück.

Die Jungs werfen ihr ganzes Brot ins Meer, die Möwen haben ihren Spaß, auch ohne Beute. In Beşiktas steigen alle aus und eine junge Frau mit hellblauem Kopftuch setzt sich auf die Bank mir gegenüber. Sie holt ihr Buch heraus und auch ich wende mich wieder meinem Buch zu, nicht ohne einen Blick auf ihres zu werfen, sie liest Hermann Hesse auf türkisch und ich lese Emine Sevgi Özdamar auf deutsch und denke an die beiden Geschäftsfrauen, wie sie mir beim Lunch von den Fähren erzählt hatten.