WHEREAMiNOW? – İstanbul’da (2)

Ich sollte an etwas teilnehmen

Iyi günler, Istanbul. Du hast dich verändert. Ich kann nicht konkret sagen, wie, deine Straßen sind wie am Tag meiner Ankunft, voll: voller Menschen, voller Katzen und voller Autos, denn wo sollen Menschen, Katzen und Autos auch sonst hin, in einer Stadt wie dir. Sie können nicht alle zuhause bleiben. Die Kinder hatten schulfrei und viele Veranstaltungen wurden abgesagt. Ein paar Nächte lang war es mucksmäuschenstill, nur die Katze, die im Einkaufszentrum wohnt, weinte. Sie weint jede Nacht, denn das Einkaufszentrum hat nachts geschlossen.

Jeden Tag schaue ich in die türkischen Zeitungen, die voll sind mit Meldungen aus den Erdbebengebieten, mit Geretteten und Gestorbenen, Schuldigen und Unschuldigen, Ursachen und Folgen, und jeden Tag schaue ich in die deutschen Zeitungen und jeden Tag lese ich dort eine Meldung weniger und heute habe ich gar keine mehr gelesen, denn es wird nicht mehr berichtet. Die ausländischen Rettungsteams sind seit letztem Wochenende aus dem Katastrophengebiet abgezogen, die Situation wurde zu gefährlich. Eine Frau, mit der ich gesprochen habe, war in Hayat als Koordinatorin für ein koreanisches Rettungsteam, die Gewalt nahm täglich zu, sagte sie, mit all den Toten, die gefunden wurden, mit all den Häusern, die geplündert wurden, mit jeder Nacht, die die Menschen draußen verbringen mussten, bei minus fünf Grad. Die Gewalt nahm täglich zu, und noch mehr Tote und Verletzte kann man in Hayat nicht gebrauchen.

Jeden Tag frage ich mich, ob es irgendeinen Sinn hat, dass ich hier bin. Ich laufe durch die Straßen, ich lerne türkisch, ich esse türkisches Essen, ich trinke Cay und Kahve und am Abend ein Efes, ich streichle die Katzen und schaue den dicken Möwen zu, die mit den Fähren fliegen, als wären sie als Begleitschutz bestellt, ich kaufe Brot beim Bäcker in Beyoglu, dessen Bruder bei Ford in Köln arbeitet und der mich für eine Ukrainerin gehalten hat, denn es gibt viele Ukrainerinnen hier in der Stadt, das Schwarze Meer ist nicht weit. Die Türkei ist ein Land, in dem Millionen von Flüchtlingen leben, viele kommen aus Syrien. EU-Präsidentin von der Leyen hat soeben erklärt, die dringlichste Aufgabe der EU sei die Sicherung der bulgarisch-türkischen EU-Grenze.

Aus den syrischen Erdbebengebieten gibt es nach wie vor kaum Informationen. Der Krieg, der Bürgerkrieg, das Erdbeben. Wie eine Freundin neulich schrieb: Wenn es schon Erdbeben gibt, warum muss es dann auch noch Krieg geben? Muss der Mensch beweisen, dass er noch besser zerstören kann, als Erdbeben, Tsunami, Überschwemmung, Vulkanausbrüche es können? Viele Syrerinnen sind rund um den Taksim mit kleinen Kindern unterwegs, sie sammeln Müll in überdimensionalen grauen Mülltüten, die sie auf Karren hinter sich herziehen, manchmal schlafen die Kinder in diesen Tüten und sehen aus wie Christkinder, eingemümmelt in eine Krippe aus Unrat und Papier.

Am Galata Port, einem riesigen Areal am Bosporus, in das man eine Einkaufsmall gebaut hat, während sich unter der Erde die Abfertigungsterminals für die internationalen Kreuzfahrtschiffe befinden, sitzen die Frauen mit ihren Kindern zwischen Mülltonnen und wärmen sich am Lagerfeuer, das sie aus Müll entzündet haben. Sie essen aus aufgeschnittenen Müllbeuteln, in denen sie Döner, Orangen und kaputte Aufladekabel gefunden haben. Es stinkt, aber nicht nur wegen des brennenden Plastikmülls, es stinkt vor allem nach Abgasen, denn an der vierspurigen Straße entlang des Hafens donnern rund um die Uhr Millionen von Mofas, Autos und Lkw vorbei. Zwischen den Straßen fährt die Tram hin und her, sie fährt nach Kabatas, sie fährt nach Bagcilar. Eine Frau sagte neulich, was die Syrerinnen mit ihren Kindern machen, das gehört verboten.

Seit ein paar Tagen ist das Wetter besser, von Tag zu Tag wird es milder und sonniger, ich sollte hinausgehen und an irgendetwas teilnehmen. Ich schreibe seit Tagen nichts, wofür ich eigentlich hier bin, zum Schreiben, aber worüber soll ich schreiben. In Köln tobt der Karneval und seit gestern haben die Clubs wieder auf in Beyoglu. Ich hoffe, du kannst deinen Aufenthalt trotz allem genießen, steht in den Mails aus Deutschland, und ich weiß nicht, was ich antworten soll. Ich gehe ein bisschen hinaus und nehme am Frühling teil.

 

19.2.2023 

Mit freundlicher Unterstützung der