Bericht aus Quebec (2)

27.9.

Siehe auch mein Beitrag auf dem Literaturportal Bayern

Treppen sind ein wichtiger Bestandteil im Stadtbild von Quebec, denn die Stadtteile weisen eklatante Höhenunterschiede auf und es gibt exzentrische Treppen, die sie miteinander verbinden. Zum Beispiel die älteste Treppe der Stadt L’Escalier Casse-Cou, übersetzt: die Halsbrechertreppe, oder L’Escalier du Faubourg, die viel steiler ist als die Halsbrecherbrücke und die Stadtviertel Saint-Jean-Baptiste und Saint-Roch miteinander verbindet.

L’Escalier du Faubourg

Wer keine Lust zu laufen hat, kann an der Rue Saint-Vallier den kostenlosen Fahrstuhl benutzen, dessen Eingang in einem Kiosk versteckt ist – eine Beiläufigkeit, die ich irgendwie sensationell finde.

Obwohl der Sankt-Lorenz-Strom prägend für Quebec und die Geschichte und Wirtschaft der Stadt ist, gibt es nur zwei Brücken über den Fluss, die auch noch so unzentral wie möglich liegen. Die älteste ist die Pont de Quebec, eine ehemalige Eisenbahnbrücke jotwede, genau da, wo der Fluß enger wird. Eine zweite verbindet das Arrondissement Beauport mit der Insel Ile D’Orleans. Darüberhinaus führen einige Autobahnbrücken und kleinere Auto- oder Fußgängerbrücken über den Saint Charles Rivière, einen kleinen gemütlichen Fluss, der dem gleichnamigen See im Landesinneren entsprungen ist und sich durch die nördlichen Stadtteile schlängelt.

Wahlen in Kanada

Eigentich wollte ich gar nicht soviel über Treppen und Brücken schreiben, sondern über Identität. Das beschäfigt mich, seit ich hier bin, nochmal auf besondere Weise, stößt man doch überall in der Stadt auf die nationale Identität der Québécois. Oftmals wird die Situation Quebecs – damit ist die gesamten Provinz gemeint – innerhalb Kanadas mit dem berüchtigten kleinen gallischen Dorf verglichen. Bei den Wahlen, die letzten Montag stattgefunden haben, ist erneut der Bloc Québécois drittstärkste Kraft Kanadas geworden und repräsentiert damit etwa die Hälfte aller Stimmen, die der Provinz Quebec innerhalb des kanadischen Parlaments zustehen. Der liberal-sozialdemokratisch ausgerichtete Bloc Québécois hat sich in den 1980er Jahren unter anderem aus Mitgliedern der linksgerichteten Parti Québécois rekrutiert, welche wiederum als ehemalige Regierungspartei durchgesetzt hat, dass Quebec als autonome Nation innerhalb Kanadas angesehen und Französisch alleinige Amtssprache wird. Wie so oft war die Behauptung der eigenen Identität auch in Quebec eine Geschichte der Emanzipation und Rückeroberung identitätsstiftender kultureller Errungenschaften. Die Parti Québécois war übrigens auch die erste, die das Recht der Ureinwohner Kanadas – der First Nations – auf Selbstbestimmung anerkannt hat.

Wie immer, wenn ich über Identität nachdenke, fällt mir auf, dass ich eigentlich gar nicht genau weiß, was das ist: Identität. Ich wusste es noch nie. Wenn ich versuche, mir in Erinnerung zu rufen, was ich je darüber gehört und gelesen habe, stelle ich fest: Es ist so gut wie nichts hängen geblieben. Es ist wie früher in der Schule, wenn ich in Erdkunde über die verschiedenen Erdschichten abgefragt wurde und ich habe das Prinzip Erdschicht irgendwie gar nicht verstanden.

Offenbar ist aber Identität etwas, von dem alle wissen, was es ist, die, die eine haben, genauso wie die, die keine haben (aber eine möchten). Ist das bereits ein Kennzeichen von Identität: zu wissen, was es ist? Oder ist es ein Kennzeichen von Identität, es nicht wissen zu müssen?

Wozu soll ich mich zugehörig fühlen?

Die meiste Zeit meines Lebens habe ich damit gehadert, mich nirgendwo zugehörig zu fühlen. Nun hätte ich mich ja der Gruppe derer, die damit hadern, sich nirgendwo zugehörig zu fühlen, zugehörig fühlen können. Aber zum einen gibt es diese Gruppe nicht als Einheit, zum anderen hat diese Gruppe, die es nicht als Einheit gibt, mich selbst nie als zugehörig empfunden: Was, ausgerechnet du fühlst dich nicht zugehörig? Ja zu was nur soll ich mich zugehörig fühlen? Zu Bayern? Zu Deutschland? Zu Europa? Zum Patriarchat?

Wenn Identität die Voraussetzung ist, um für die Interessen der eigenen Gruppe und gegen Benachteiligung kämpfen zu können, ist es notwendig, sich dieser Gruppe zugehörig zu fühlen. Und dann ist es selbstverständlich auch notwendig, sich gegen diejenigen abzugrenzen, die, seit man denken kann, für strukturelle Unterdrückung sorgen. Schwierig wird es leider immer dann, wenn gar keine Benachteiligung vorliegt und bereits privilegierte Gruppen nur einfach nicht aufhören können, ihre eigenen Interessen durchzusetzen (gegen die Interessen anderer Gruppen). Nur: Wer definiert, wann was aufhört – die einen oder die anderen? Ich persönlich gehöre partiell zu benachteiligten wie privilegierten Gruppen, also bin ich – objektiv gesehen – raus. Was nicht gerade zur Steigerung meines Zugehörigkeitsgefühls beiträgt.

Ein Gespenst sitzt auf der Treppe

Der Teil in mir, der sowieso nicht an das Konzept Identität glaubt, ist ein Gespenst und versucht Menschen, die für ihre Interessen kämpfen, möglichst wenig im Weg zu stehen. Das Gespenst sitzt am liebsten in Zwischenräumen und schaut den Leuten beim Leben zu und ansonsten schaut es Treppen und Brücken an. Wo immer graduelle Unterschiede sind, sind Treppen die Möglichkeit, diese auszugleichen. Man sollte nur immer irgendwie den Überblick bewahren, wo man gerade ist. Eine Treppe ist eine Treppe ist eine Treppe.

Während das Gespenst in mir auf die Treppen schaut, lese ich wieder in Karen Barads Buch Verschränkungen (Merve-Verlag), über das ich bereits im Meran-Blog sinniert habe. Man kann die Welt so sehen, dass sie aus Quantenverschränkungen besteht; dass auch wir uns in einer fortwährenden Superposition befinden: Dass wir etwas sind, das wir gleichzeitig nicht sind, ist kein Widerspruch, sondern eine Eigenschaft. Es gibt so gesehen gar keine Widersprüche – das hört sich jetzt ein bisschen harmoniesüchtig an – damit ist aber gemeint, dass die Einteilung der Welt in Schwarz und Weiß, in Mann und Frau, in Ihr und Wir, in Gut und Böse ein ganz großer Irrtum ist, und einfach nur der Tatsache geschuldet ist, dass wir (noch) nicht so weit sind, über das Konzept von Dualität hinaus zu denken. Im Grunde haben wir alle keine Identität, denn Identität ist etwas Statisches und steht der Zeit, die vergehen möchte, im Weg. Rein quantenphysikalisch gesehen, so Karen Barad, ist alles, was ist, queer. Alles andere ist Treppe.

P.S. Ich habe keine Ahnung, was Treppen und Sitzgelegenheiten mit Identität zu tun haben, aber auf dem Wandbild in der Rue Stanislaus, das den Quebeccern und den Gründern des Institut Canadien de Quebec gewidmet ist, ist dieser Zusammenhang eindeutig abgebildet. Und das habe ich spukhafterweise erst festgestellt, nachdem dieser Text geschrieben war.

The neckbreck stairs

Stairs are major elements of the landscape of Quebec-City, because upper town and downtown display tremendous differences in height and there are excentric stairs to connect the levels. For example, the oldest staircase in town is L’Escalier Casse-Cou translated as: the neckbreck stairs. Or L’Escalier du Faubourg, which is even more precipitous than the neckbreck stairs and which links the quarter Saint-Jean-Baptiste to Saint-Roch. Pedestrians who don’t feel like taking the stairs can use the lift on the Rue Saint-Vallier for free; its entry is hidden in a kiosk – an occurence I really deem remarkable.

Virtually I didn’t want to write about stairs, but about identity. I have been dealing with it ever since arriving here, because at every corner you bumb into the national identity of Quebec. As always when I’m considering identity, it strikes me, that I don’t know what it really is. I’ve never known it. It’s like in school, when in geology I was requested to explain the several tiers of earth, but somehow I hadn’t even understood the priniciple of tiers of earth.

The part of myself that has never believed in the concept of identity is a ghost, watching these stairs and trying to not inhibit people who are seeking identity. And again I’ve been reading the book Entanglements of physician and philosopher Karen Barad. One could grasp the world as something that consists of entanglements, and that ourselves, too, are in an ongoing state of superposition. We are something that we are not, at the same time – this is not a contradiction, but a feature. In this saying, there is no contradiction at all – even if it sounds as if I were addicted to harmony – but it means, that the splitting of the world into black and white, men and women, you and we, good and bad is a big error and just owed to the fact that we are still far away of overcoming the concept of duality. Basically nobody has an identity, becauce identity is something stable and inhibits the time on its way to pass. If everyting is seen in a sheer quantum-physics way, writes Barad, everything that exists would be queer. Everything else is just a staircase.